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Die Kindheits-Depression

Die Kindheits-Depression steht in der menschlichen Entwicklungsphase unter den psychischen Störungen an erster Stelle. Als eigentliche Krankheit wird sie erst seit Kurzem wahrgenommen. Oft wurde sie nämlich mit entwicklungstypischen Auffälligkeiten im Verhalten oder den Beziehungen verwechselt.

Historischer Rückblick

Erst mit den Untersuchungen des Psychiaters, Psychologen und Begründers der modernen Psychiatrie Emil Kraepelin (1921) wurde die Melancholie als Phase der Manisch-Depressiven Krankheit aufgefasst. Die als Pionierin auch Kleinkinder behandelnde österreichische Psychoanalytikerin Melanie Klein wies erstmals die Kleinkinder-Depressionen bei Drei- bis Vierjährigen nach. Im Zuge ihrer mehrjährigen Beobachtungen formulierte sie hierzu die Theorie der “Depressiven Position” (Klein, 1927), die im Verlauf des sich entwickelnden Gefühlslebens bereits in den aller-frühesten Lebensabschnitten in der Mutter-Sohn eingenommen wurde. Diese depressive Position fiel hierbei mit dem Abstillen zusammen. Das Kind entdeckt dabei, dass es bezüglich seiner lebenswichtigen Bedürfnisse von der Mutter abhängig ist, während es Ohnmachtsgefühle empfindet, da es sie nicht immer bei sich haben kann. Es entwickelt somit eine depressive Haltung. Diese kann überwunden werden oder eben auch nicht.

In der Folge belegten die Beobachtungen und Studien des österreichischen Psychoanalytikers René Spitz bezüglich der “anaklitischen Depression”(abgeleitet vom griechischen anáklitos, zurückgelehnt, liegend) wie die Kindheits-Depression bereits nach den erstem Halbjahr der Neugeborenen in Erscheinung treten könne. Sie trete als Antwort auf eine längere Trennung von der Mutter und ihrer gefühlsstarken Fürsorge auf (1945).

Die wissenschaftliche Forschung hat es in den Folgejahren besser verstanden, die Kindheits-Depression von anderen entwicklungs-typischen Auffälligkeiten im Verhalten oder DEN Beziehungen der Kinder abzugrenzen. Sie unterscheidet sie nun von letzteren: vom Autismus, von den Minderbegabungen, von den Aufmerksamkeitsstörungen mit und ohne Hyperaktivität und von den Lernstörungen. Sie grenzt zudem (gemäss DSM-5, 2013) die “majore” Depression von der bipolaren Störung, von der anhaltenden depressiven Anpassungsstörung und von der ungehaltenen Launenhaftigkeit “DMDD” (anhaltend übelgelaunter und provozierbarer Kinder) ab. 

Die Kinder depressiver Mütter

Die mütterliche depressive Erkrankung, das Unterlassen ihrer Behandlung, sowie das Fehlen von auf Lautgebungen des Kleinkindes antwortenden mütterlichen Zuwendungen und Beachtungen können negative Reaktionen in der Mutter-Kind-Beziehung bewirken. Das ausdruckslose, apathische und unbewegliche Gesicht einer depressiven Mutter kann eine schlechte Stimmung im Kind auslösen, die sich auch auf die Beziehungen mit den Anderen ausweitet (Tronick, 2009). Die positiv geprägten Antworten des mütterlichen Minenspiels auf das Lächeln des Neugeborenen hingegen erfüllen auch weiterhin das Kleinkind mit lebendigen Emotionen.

Symptome der Kindheits-Depression

Die Symptome wechseln oft in Abhängigkeit vom Alter und den durch die depressive Erkrankung geprägten Anpassungen und Reaktionen.

 

Während der ersten Lebensjahre (1:6 – 3;0) weist die Depression derlei körperliche Symptome auf:

  • Appetitlosigkeit bis zur Nahrungsverweigerung, alters-atypische Schlafgestaltung, Durchfallsepisoden, Ekzeme;

  • Verzögerte Entwicklung der Psychomotorik;

  • Rückzug und Unfähigkeit, zwischenmenschliche Reize zu erwidern bis hin zur anaklitischen Depression und ohne gefühlsvolle Zuwendung bei kleinen Spitalpatienten auftretenden “Hospitalismus”.

Depressionen während des Kleinkindes- oder präpubertalen Alters (3;0 bis 13;0) äussern sich häufig über subjektive und das Verhalten betreffende Symptome wie:

  • traurige, freudlos melancholische oder auch unleidige bzw. unstete Stimmung;

  • Reizbarkeit, Aggressivität, Verärgerung, Wut, Geringschätzung, Schuldgefühle;

  • häufig liegen Angststörungen, Trennungsangst oder Schulphobien vor;

  • Schlaf- und Appetitstörungen;

  • herausforderndes oppositionelles oder Vermeidungsverhalten, mit Rückzug und geringer gesellschaftlicher Einbettung;

  • Verhaltensauffälligkeiten, Schul- und Beziehungsstörungen.

Adoleszenten-Depression

Mit der Pubertät bedingen Depressionen solcherlei subjektive und beobachtbare Symptome:

  • deprimierte, freudlos melancholische, traurige Stimmung;

  • seelischer Schmerz, Pessimismus;

  • Geringschätzung des Selbst mit Verlust des Selbstvertrauens;

  • Störungen von Schlaf, Appetit und/oder des Geschlechtsleben;

  • Tendenz zu Wein- und/oder Wutanfällen, starke Gefühlsanspannungen, Ängste und phobische Furcht.

  • Störungen im Auftreten, Schulschwierigkeiten, Impulsivität, selbst- oder fremd-gefährdende Gewalt, unbedachte Rektionen, antisoziales, Protest-, Fluchtverhalten, Kriminalität und mögliche Substanz- und/oder Medikamentenmissbrauch.

Oft äussert sich bei Adoleszenten Depressionen, abgesehen von Phobien, Angst- und Ernährungsstörungen auch in einer bleibenden Persönlichkeitsstörung, insbesondere auch vom Borderline-Typ.

Diagnose der Kindheits-Depression

Gemäss der DSM-5 erfordert die Feststellung einer Depressions-Diagnose im Kindesalter, genauso wie bei Erwachsenen, das Vorhandensein von insgesamt – neben den Bereichen getrübter Stimmung oder mangelnder interessierter Lebenslust – fünf Symptomen aus Gewicht, Schlaf, Bewegung, Ermüdbarkeit, Selbstwert/Schuld, Konzentration und Todesgedanken, welche – unverursacht durch andere auch medizinische Störungen – während zumindest zwei Wochen gegenüber der gewohnten Verfassung neu und die meiste Zeit anhaltend aufgetreten sind, und zwar in einem Ausmass, welches im Alltag der Familie, Freizeit, und/oder Ausbildung belastend und/oder beeinträchtigend war.

Die diagnostische Abgrenzung der majoren Depression beinhaltet jedoch speziellbei Kleinkindern erhebliche Schwierigkeiten, da – etwa durch das häufige Weinen oder Schlafen der Kleinkinder – gegenübeder typischen Symptomatologie der Erwachsenen – erhebliche Unterschiede zu beachten sind. Bei letzteren kommt es neben Traurigkeit, Weinerlichkeit, Kraftlosigkeit, Schlaf- und Appetitstörungen, Trägheit und sozialem Rückzug oft zu düsteren Gedanken, Pessimismus und Schuldkomplexen.

Wie geschildert bietet die Kindheits-Depression hingegen Symptome einer starken Reaktivität gegen die deprimierte Stimmung. Eine Kindheits-Depression kann sich aber auch hinter einer übermässigen Gefügigkeit mit betonter Unterwerfung unter den Erwachsenen oder einer anhaltende Passivität verbergen. Später in der Klasse betont schweigsame, isolierte oder sehr gehorsame, verschlossene, introvertierte oder soldatenhaft in der Reihe stehende Kinder können der Frühdiagnose Depression entgangen sein, die nun verspätet als Grundstörung gestellt werden kann. 

Die Ursachen der Kindheits-Depression

Es werden bei der Kindheits-Depression mehrere ursächliche Faktoren erwogen, deren Ursprung auch im Rahmen eine familiären Veranlagung biologisch, psychologisch und sozial sein kann. Die Depression ist keine Erbkrankheit, aber es kann bei Kindern depressiver Elternteile eine grössere Erkrankungsneigung durch genetische Veranlagung mit rascherem Auftreten und längerer Episodendauer in Erscheinung treten, (Nixon, 1999). Stressfaktoren beeinflussen zudem ebenfalls auf neurobiologischer Ebene das Nervensystem und seine Regulierung über Botenstoffe wie Serotonin, Noradrenalin oder Dopamin. Zur Krankheitsschwere tragen soziale Ursachen, Streitigkeiten in der Familien oder in der Schule mit Peers, oder auch eine allgemeine Demotivation und Reduzierung bezüglich der zwischenmenschlicher Beziehungen bei.

Die Therapie

Für gewöhnlich kommen die Individual- oder Gruppen-Psychotherapien, und insbesondere die interpersonale und Kognitive Verhaltens-Therapie bei leichten und mittelschweren Kindheits-Depressionen zum Einsatz. Die Individualtherapie erfreut sich einer breiten Bestätigung durch wissenschaftliche Studien, die zweite ist bei Jugendlichen eine vielversprechende Intervention.

Die Pharmakotherapie wird in den schwereren oder risiko-reicheren Formen der Kindheits-Depression mit oder ohne Psychotherapie eingesetzt. Am häufigsten werden serotonerge Antidepressiva angewendet. Sowohl wegen ihrer geringen Wirksamkeit, als auch wegen ihrer Nebenwirkungen werden trizyklische Antidepressiva wenig eingesetzt.

Wo immer soziale Ursachen und Alltags-Umstände im Vordergrund stehen müssen geeignete Angebote auch die Familie miteinbeziehen.

Schlussbetrachtungen

Eine Psychoedukation zur Kindheits-Depression, der Betroffenen, ihrer Angehörigen und Erziehungspersonen ist unverzichtbar um eine unverzögerte Diagnose und Therapie durch die Fachperson zu erzielen. Dies aber nicht zuletzt auch zur Verhütung denkbarer schwerwiegender Folgen oder des Auftretens hierbei gehäufter Risiken. Selbstverletzende und suizidale Verhaltensweisen oder aber Drogenmissbrauch gehen nämlich oft mit desaströsen Folgen für Patienten und Angehörige einher. 

Gottfried Treviranus übersetzt. Wenn Sie den italienischen Text sehen möchten, klicken Sie hier.

Maurilio Tavormina

Bibliographie

  1. American Psychiatric Association (2013) Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition (DSM-5) Washington DC

  2. Guareschi Cazzullo A., Lenti C., Musetti C.: La depressione infantile. Poletto edizioni 1992, pagg 136

  3. Guareschi Cazzullo A., Lenti C., Musetti L., Musetti M.C.: Neurologia e Psichiatria dello Sviluppo. McGraw-Hill Libri Italia, 1998, pag. 315

  4. Kraepelin E.: Manic-depressive Insanit and Paranoia, Robertson Ed. W.W. Chicago, 1921

  5. Klein M.: Symposium on Child Analysis (1927), Contributions to Psychoanalysis, Hogarth, London, 1948

  6. Nixon M.K.: Mood Disorder in Children and Adolescents: coming of age. J. Psychiatry neurosci 24 (3): 207-9, 1999

  7. Spitz R.A.: Hospitalism: an inquiry into the genesis of Psichyatric Conditions in early Childhood Int. Univ. Press, New York, 1945

  8. Tronick E, Reck C: Infants of depressed mothers Harv Rev Psychiatry. 2009;17(2):147-56. doi: 10.1080/10673220

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